Varanasi - Nordindien

2012 verbrachte ich drei Monate in Nordindien & Nepal und lebte zuerst 30 Tage auf den Strassen von Varanasi. Man lernt hier viel über Armut und das immense Glück der wahren Freundschaft, welche sie mit sich bringt. An den Ufern des Ganges, wo sie die Verstorbenen verbrennen, lernt man sich mit dem Tod und dem Geschenk des Lebens auseinander zu setzen.

Ich durfte hier in die Tiefen des Hinduismus eintauchen, welcher ich bis dahin nur aus europäischen Ashrams kannte. Das harte Leben am Ganges tat meiner überheblichen Esoterik gut, welche sich bis dahin eingeschlichen hatte. Hier verlor ich meine egoistische, spirituelle Haltung – unter jenen Menschen, die am wenigsten haben: den Sadhus.

Es waren die ganz einfachen Sadhus auf den Strassen. Sie scheinen kein Ego zu besitzen, während andere, umgeben von vielen Schülern, nur von der Selbstlosigkeit sprachen. Die Sadhus der Strassen waren nicht an Tempel, Gold und Scharen von Menschen gebunden. Sie waren frei. Die anerzogene Scham vor Dreck oder dem Nacktsein ist von ihnen abgefallen und sie sind nicht mehr auf die Bestätigung von aussen angewiesen.

Dieser Sadhu gehört zur Gruppe der Aghori, welche von allen anderen gemieden werden. Man sagt, dass sie voller Dunkelheit und Grausamkeit seien und in der Nacht aus den überfluteten Tempel des Ganges steigen. Eines Tages, auf den Strassen von Varanasi, zog mich dieser Aghori aus der Menge. Es bildete sich ein Kreis von Menschen um uns.

Der Aghori bat erst um ein Foto, danach beschmierte er mein Gesicht mit dem Dreck der Strasse. Ein Mann aus der Menge übersetzte auf Englisch die Worte des Agori: „Nun lernst Du, was es wirklich bedeutet am Leben zu sein.“

Dann teilte er eine saftige Ohrfeige aus, Staub und Dreck flog durchs Gesicht. Da lachte er und nahm mich feste in seine Arme. Wut verwandelte sich blitzartig in Trauer. Trauer über mich selbst, mein falsches Lachen, falsche Gehorsamkeit. Ein lebendiges Wesen bin ich, versteckt hinter einer aufgesetzten Persönlichkeit. Ein Lebewesen auf der Suche nach Bestätigung und Anerkennung der anderen.

Dieser Mensch zerschlug mit einem Mal die anerzogene Maske, welche bis dahin auf meinem Gesicht war.

Durch die Begegnung mit diesem Lehrer begriff ich, dass Dunkelheit zum Leben gehört – wie auch das Licht. Das Leben und der Tod sind allgegenwärtig und jedes Lebewesen ist gut und böse – ob ich es glauben will oder nicht. Diese Tatsache lehrt uns, ehrlich mit uns selbst zu sein und sich nicht darauf zu konzentrieren, was andere von einem halten.

Erinnerung an Varanasi

Da nimmst Du mich. Zerrst mich zu Boden und wirfst mir Asche ins Gesicht. Dann tötest Du mich mit Deiner Umarmung und ich erwachte im Leben.

Am Ganges brennst Du im Feuer
Am Ganges heilst Du einen Kranken
Am Ganges leuchtest Du den Wesen in der Dunkelheit den Weg durch die Zeit.

Da liegst Du nun, im Dreck und Urin
Da liegst Du ohne Scham & Ego.

Ich sehe Deine Schönheit, Du Weltenseele. Wie Du in allem Leben pulsierst.

Auf offener Strasse hast Du meine Maske zerschlagen. Nun passt mir keine mehr.

In Allem seh‘ ich Scherben. Bin nackt und gezwungen, für immer loszulassen.

Copyright 31.01.2022 A.Alphasteinn. Zurich, Switzerland